Eine Atomphysikerin als Bestsellerautorin: International bekannt geworden durch »Die Stadt mit der roten Pelerine« und mit zahlreichen Preisen geehrt, engagiert sich die Autorin gegen die Unterdrückung von Minderheiten und für soziale Gerechtigkeit.

FASER FÜR FASER AUS MENSCHLICHEM LEIDEN GEWOBEN von Sibylle Thelen

Wie fühlt sich Erfolg an, der haarscharf am Abgrund vorbeiführt? Asli Erdogan kann davon erzählen. Das Jahr 2008 beginnt für die Istanbuler Autorin vielversprechend. Sie bereitet sich auf ihre Lesereise quer durch Deutschland vor. Ihr Roman »Die Stadt mit der roten Pelerine« (in der Originalausgabe von 1998: »Kirmizi Pelerinli Kent«) liegt seit dem Frühjahr in der deutschen Übersetzung vor. Im Herbst soll die Schriftstellerin zur Buchmesse nach Frankfurt fahren, um beim Gastlandauftritt der Türkei dabei zu sein. Neue internationale Erfolge kündigen sich an, Auftritte, Auszeichnungen, Anerkennungen. Doch dann kommt der 1. Mai, Demonstrationen, Ausschreitungen, und plötzlich zeigt sich der Abgrund: Istanbul ist am 1. Mai 2008 wie belagert von Polizei; Hundertschaften in blauer Uniform mit Schutzschild und Schlagstock haben Beyoglu, die Innenstadt von Istanbul, bereits am Vormittag abgeriegelt, um die Demonstranten vom Marsch auf den zentralen Taksim-Platz abzuhalten. Straßenkämpfe brechen aus, Wasserwerfer fahren vor, Krankenwagen preschen unter Sirenengeheul durch die Stadt. Und mittendrin ist Asli Erdogan.

Als sie wenige Wochen später, im Juni 2008, nach Deutschland kommt, muss sie noch immer eine Halskrause tragen. Die Polizei, berichtet die Autorin, habe aus einer Entfernung von fünf Metern einen Wasserstrahl auf sie gerichtet, der sie durch die Gegend schleuderte. »Ich versteckte mich hinter einem Auto, dann kam das Tränengas. Im Fernsehen wurde das nicht gezeigt.« Die Autorin macht um ihre Verletzung kein besonderes Aufheben. Doch unüberhörbar liegt Resignation in ihrer Stimme: »Einiges hatte sich in Richtung Demokratie entwickelt. Nun aber ist vieles wieder vom Kampf um die Macht beherrscht. Auf der einen Seite steht die Regierungspartei AKP, auf der anderen Seite der konservative Staat. In diesem großen Kampf nutzt jede Seite die Demokratie nur als Maske. Die Demokratie der AKP ist für mich unglaubwürdig. Diese Partei will gar keine Freiheit.«

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Die Journalistin Sibylle Thelen, von 1989 bis 2011 Redakteurin der »Stuttgarter Zeitung«, ist Abteilungsleiterin der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Sie veröffentlichte zuletzt »Istanbul, Stadt unter Strom« (Herder Verlag, 2008) und »Die Armenierfrage in der Türkei« (Wagenbach Verlag, 2010).

© KulturForum / Sibylle Thelen, Stuttgart, September 2010

Auszug aus dem Essay im Begleitheft zur Filmreihe »Menschenlandschaften - Sechs Autorenportraits der Türkei«, hergestellt und herausgegeben vom KulturForum TürkeiDeutschland.

Mehr über die Autorin unter www.aslierdogan.com