Der »wortmächtige, mutige Erzähler« der türkischen Literatur hat mit »Memed mein Falke« und weiteren epischen Romanen mehrere Generationen geprägt: er wurde mehrfach für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen.

DIE MAGIE DES WORTES Von Cornelius Bischoff

Yasar Kemal, wahrscheinlich 1923 unter dem Namen Kemal Sadik Gökçeli geboren, war schon im Alter von acht Jahren in seinem Heimatdorf Hemite, nordöstlich von Adana im Süden des Taurus-Gebirges, als Sänger und Dichter bekannt. Man nannte ihn »Asik Kemal« - Kemal der Barde. Als junger Erwachsener ging er zunächst nach Adana, schlug sich als Tagelöhner, Hirte und Wasserwächter auf den Reisfeldern durch, arbeitete als Vertretungslehrer in einer Dorfschule, als Briefeschreiber für Analphabeten vor der berühmten Neuen Moschee. Von Adana aus ging er nach Istanbul, wo er anfing, Reportagen über die ausbeuterischen Machenschaften der Agas, der Grundbesitzer, aus seiner Heimatregion in Zentralanatolien, der Çukurova, zu schreiben, bevor er ein erfolgreicher Romanautor wurde. Der Name Yasar Kemal war ursprünglich ein Pseudonym, besser: ein Deckname, unter dem seine Reportagen in der Tageszeitung »Cumhuriyet« erschienen.

Erste Begegnungen mit Yasar Kemal

Ich selbst lernte Kemal über seine Bücher kennen: Im März 1955 schickte mir mein guter Freund, der leider so früh verstorbene berühmte Maler Orhan Peker, ein kleines Buch mit dem Titel »Teneke« - wörtlich: Blech, sinngemäß: Blechkanister. Da ich meine Kindheit und Jugend in Istanbul und Çorum verbracht habe, war ich immer neugierig auf Neuerscheinungen aus der Türkei. Die 1978 erschienene deutsche Übersetzung lautete allerdings: »Anatolischer Reis«. Mein bevorzugter Titel wäre »Blechtrommeln« gewesen. Aber in der deutschen Literatur gab es ja schon einen ähnlichen Buchtitel: »Die Blechtrommel« von Günter Grass, erschienen 1959.

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Der Jurist Cornelius Bischoff, seit 1978 als literarischer Übersetzer tätig, verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und war von 1944 bis 1945 in der türkischen Stadt Çorum interniert. Er erhielt für seine Arbeiten unter anderem den Förderpreis für Literatur und literarische Übersetzung der Hansestadt Hamburg und die Ehrenurkunde des Türkischen Ministeriums für Kultur.

© KulturForum / Cornelius Bischoff, Istanbul, Oktober 2010

YASAR KEMAL LESEN
Von Altan Gökalp

Waise, Stotterer, Einäugiger: Diese Trias charakterisiert Odin, den wohl mächtigsten Gott der nordischen Völker; sie charakterisiert aber auch Helden türkischer Legenden. Es sind drei defizitäre Eigenschaften, die all diese unterschiedlichen Heldenfiguren veranlasst, sich Mächtigen, Gegnern und übernatürlichen Kräften im Kampf entgegenzustellen. Die gleiche Trias charakterisiert auch den einzigartigen Schriftsteller Yasar Kemal. Als Kind stotterte er, beherrscht heute aber die Sprache wie kaum ein anderer. Als Schuljunge verlor er ein Auge, ist aber ein herausragender Schöpfer von Bildern und Farben. Und in vielfacher Hinsicht lässt er sich als Waise bezeichnen; die Mysterien dieser Not können auf einem weiten Feld begriffen werden: von seinen persönlichen Freundschaften bis hin zur Politik, von seinen Kämpfen bis zu seinem inneren Drang zu schreiben, zu erzählen.

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Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Prof. Dr. Altan Gökalp (1942–2010), Direktor des französischen Wissenschafts- und Recherche-Zentrums CNRS, übersetzte viele Werke des Friedenspreisträgers Yasar Kemal ins Französische. Zuletzt erschienen von ihm »Harem, Mythos und Realität« und die Übersetzung von Yasar Kemals »Dede Korkut« (mit Louis Bazin).

© KulturForum / Altan und Mathias Gökalp, Paris, 2001

Auszug aus dem Essay im Begleitheft zur Filmreihe »Menschenlandschaften - Sechs Autorenportraits der Türkei«, hergestellt und herausgegeben vom KulturForum TürkeiDeutschland.

Mehr über den Autor unter www.yasarkemal.net